Die digitalen Zeichnungen aus der Serie „spirali“ von 2012 – 2019 zeigen weiße Spiralformen auf schwarzem Grund. Sie erwecken Assoziationen zu Spiralgalaxien und lassen vor dem Auge einen imaginären Nachthimmel entstehen. Um einige Spiralen bewegen sich kyrillische Buchstaben wie Trabanten. In der Übersetzung bedeuten die russischen Wörter fern, Himmelskörper, Spiralen. Vielleicht stehen sie für die Sehnsucht, eine innere Verbindung mit dem nächtlichen Kosmos herzustellen. Drei zu einem Fries zusammengefasste Zeichnungen zeigen Spiralkörper, welche von schwarzer Materie aufgesaugt zu werden scheinen. A.S.
still in my mind
The digital and analogue archives of my travel pictures – a mountain of memories from which my gaze wanders back to distant countries. Even after decades, they are still in my mind, especially those from China, where I lived for a while in cities by the water between 2001 and 2008. Shanghai on the Huangpu River with its endlessly moving ships from all over the world, Nanjing on the wide, glittering Yang tse Kiang, Shaoxing with its canals reminiscent of Venice and Hangzhou on the Western lake Xi Hu, which in China is called paradise on earth. Colourful and buzzing life on the banks and in the heart of the cities. At the beginning of my trips to China, I mainly took photos in black and white, later in colour ….. but colors fade away…./A.S
in der Schwebe – diaphane Objekte
Galerie Lindner, Wien, 2016
minimalistisch, konkret
Die Arbeitsweise von Akelei Sell läuft sehr präzise ab. Ihre Installationen bedingen ein genaues Eingehen auf den Raum. So ist die Konstellation der Objekte zueinander und im Raum wohl durchdacht. Die materialisierte Leichtigkeit der künstlerischen Arbeiten scheint die Schwerkraft aufzuheben. Der Ausstellungstitel „in der schwebe“ betont dieses physische Moment.
Die Grundtendenz zur Reduktion zeigt sich in der Wahl geometrischer Formen – Quadrate, Rechtecke, Kreise und Ringe aus satiniertem oder glasklarem Acrylglas, bemalt mit hauchdünnen Farbschichten – glänzend, matt, irisierend. Manchmal tragen sie nur hauchdünne Spuren von Malmedium und sind stellenweise fein geschmirgelt. Vorder- und Rückseite der diaphanen Arbeiten erscheinen äquivalent. Kreise und Ringe bilden den momentanen Arbeitsschwerpunkt der Künstlerin und stellen die Abrundung einer Werkphase von 2013 ̶ 2016 dar.
Das Eingehen auf die Eigenheit des Materials und dessen Gestaltung durch Farbe oder Nicht-Farbe bestimmen das Werk von Akelei Sell. Die minimalistische Formensprache der Künstlerin manifestiert auf konkrete Art das Wesentliche. Ihre durchscheinenden Objekte (Kreise, Ringe) und Bildobjekte (Tableaus) sind frei von Gegenstandsbezügen und rein durch geometrische Konstruktion erzeugt. Die sich in der Materialität verwirklichende Form trägt ihre Bedeutung in sich selbst, ähnlich der Konkreten Kunst.1 Die Kunst von Akelei Sell kann allerdings nicht subsumiert werden, darin liegt ihr Frei_Raum.
Frei_Raum
Ein Intervall in der Zeit und im Raum birgt eine Vielzahl an Möglichkeiten. Die abstrakte Vorstellung von der essentiellen Leere und dem Frei_Raum kennzeichnet auch das japanische Konzept von Ma. Nicht alles tritt in der japanischen Kunst offen zu Tage – der Moment der Andeutung verbleibt. Die Betrachter*innen können in diesen Frei_Raum eintreten. Die Leere stellt keinen Mangel dar. Vielmehr ist sie ist eine eigene Form der Existenz. Verborgenes und Geheimnisvolles erhält auf subtile Weise Raum. Die Werke von Akelei Sell liegen auf einer ähnlichen Ebene räumlicher Andeutung und Imagination. Das horizontal gefaltete lose Blatt II und die frei im Raum installierte vertikale, semitransparente Faltung aus dem Jahr 2014 kommen dem Verständnis von Ma am nächsten. Gefaltet, gerollt und ausgebreitet stellen sie zudem einen Übergang zwischen Zeichnung, Malerei und Skulptur dar.
Konstruktiv
Die transparenten Collagen Spirali, April, Mai aus dem Jahr 2013 werden als einzige in der Ausstellung durch einen Rahmen begrenzt. Einfache geometrische Formen und kyrillische Buchstaben schweben, fallen und steigen im unbestimmbaren Raum. Unterschiedliche Dichte, Tiefe und Dynamik werden dadurch erzeugt. Sie scheinen eine dritte Dimension zu erschaffen und lassen an die Proun2-Bildkompositionen des russischen Avantgardisten El Lissitzky denken, in denen geometrische Figuren eine räumliche Wirkung auf zweidimensionaler Fläche erzeugen. In seinem Prounenraum richtete er die geometrischen Formen plastisch und gemalt ein ̶ zueinander in Verbindung stehend. Bei Akelei Sell treten Linie und Fläche als eigenständige Objekte im Ausstellungsraum in Erscheinung.
Akelei Sell installiert Ringe und Kreise fast schwerelos frei im Raum, ihre Tableaus lehnt sie leicht an die Wand, die losen Blätter rollt sie horizontal aus. Diese Art der Präsentation lässt erkennen, dass eine Ausstellung auch eine Technik des Zeigens ist. Sie ermöglicht eine Reflektion darüber, wie das Gezeigte gezeigt wird. El Lissitzky schlug zur Betrachtung seiner Gemälde und Collagen u.a. ebenso die Horizontale vor, da sie eine andere Art der Lesbarkeit eröffnet ̶ für El Lissitzky die des Studiums, weil damit das Ästhetische und die Zierde überwunden würden.
Angenommen, die Vertikale ist der Kontemplation und die Horizontale dem Studium zuträglich, wie verhält es sich dann mit den Kunstobjekten von Akelei Sell? Ihre diaphanen Objekte erscheinen entgrenzt und als freie Bestandteile des Raumes. Die Andeutung der Künstlerin liegt in dem Raum dahinter – zwischen Wand und Objekt. Es ist der Spielraum des Lichtes – es wird reflektiert und absorbiert. Diese bedachte Auseinandersetzung eröffnet Raum, der von der Künstlerin offen gelassen wird. Ihre Kunst liegt in der konkreten Verfeinerung. So bedingen das Durchscheinende und Lichthafte einander im Œuvre von Akelei Sell. Mit ihren transluziden Arbeiten erkundet sie Leichtigkeit, Licht und Weite – sie leiten sich aus ihrem Wiener Atelier her, einem Raum aus Licht.
Panta rhei – wer denselben Raum betritt, dem fließt anderes und wieder anderes Licht zu.
Sabine Paukner
1 Der Begriff wurde 1924 von Theo van Doesburg als Gegensatz zur Abstrakten Kunst eingeführt. Die Konkrete Kunst basiert auf Flächen und Farben mit klaren geometrischen Prinzipien und ist ohne jegliche symbolische Bedeutung.
2 Angeregt durch Kasimir Malewitsch widmete sich El Lissitzky der gegenstandslosen Geometrie und entwickelte 1919 Proun ̶ „Projekt der Etablierung des Neuen“, das sich als Weiterführung des Suprematismus, der ersten konsequent ungegenständlichen Kunstrichtung, in die Dritte Dimension versteht.